Abschied vom "dreißig zwanzig" Ein legendärer Eilzug stirbt in Raten
erschienen in Ausgabe 3/2001 der Zeitschrift SCHIENE
"Wer macht denn solche Pläne?" Hermann Dietsche ist verärgert. Der grauhaarige Herr nimmt die Brille ab. Mit einer wirschen Handbewegung legt er das neu gekaufte DB-Kursbuch "Oberrhein" auf den Sitzplatz neben sich. "Warum machen die denn alles kaputt, was sich so viele Jahre bewährt hat?"
Dietsche sitzt auf seinem Stammplatz im Regionalexpress 18048. Schon als Student, seither sind weit über 30 Jahren vergangen, saß er häufig in dem Zug, der den Badischen Bahnhof von Basel mit der Landeshauptstadt Stuttgart verband. Zu früher Morgenstunde, noch vor 6 Uhr, machte sich der Eilzug E 557, wie er in den Sechzigerjahren hieß, auf die Reise. Über Freiburg, Offenburg, Baden-Baden, Karlsruhe und Pforzheim, über die "Landesgrenze" zwischen Baden und Württemberg und weiter über Mühlacker und Ludwigsburg wand sich der Zuglauf um den Schwarzwald herum, bis er sein Ziel am Stumpfgleis im Stuttgarter Hauptbahnhof erreicht hatte.
Von Riegel, wo Hermann Dietsche auch heute noch regelmäßig zusteigt, bleiben dem treuen Kunden der Bahn etwa zweieinhalb Stunden Fahrzeit bis Stuttgart. Zeit für die Zeitung, Zeit für manchen Blick aus dem Fenster auf die Vorberge und die Höhen des Schwarzwalds, Zeit für ein Gespräch mit anderen Berufspendlern, die er von vielen gemeinsamen Fahrten kennt, Zeit für einen Kaffee aus der Thermoskanne und Zeit für die Vorbereitung auf die Besprechung in der Zentrale seiner Firma, dem eigentlichen Grund der Reise.
Gute alte Zeit? - Erst vor zwei Jahren begann, so Dietsche, die "Demontage" dieses ehrwürdigen Zuglaufs. "Ich weiss es noch genau" erzählt er. Am 1. Juni 1999, dienstags ist sein "Stuttgart-Tag", las Dietsche nichts ahnend seinen Eisenbahn-Kurier, als es kurz hinter Ettlingen durch den Lautsprecher schepperte: "Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Karlsruhe Hauptbahnhof. Der Zug endet dort. Ihre nächsten Anschlüsse...".
Auch Zugbegleiter Karl T. versteht nicht, dass seither so viele Reisende eine halbe Stunde die Bahnsteighalle in Karlsruhe besichtigen dürfen, um dann den hetzenden Umsteigern aus dem Intercity die Sitzplätze im sehr gut ausgelasteten Interregio nach Stuttgart streitig zu machen. "Der durchgehende Zug fehlt einfach", kommentiert Dietsche. Und auch der Schaffner bestätigt aus seiner langjährigen Erfahrung: "Der 3020 hatte immer viel Kundschaft, die bis Stuttgart, manche auch nur bis Pforzheim oder Mühlacker sitzen blieben."
Mit dem Sommerfahrplan 1999 wurde der RE 3020 also amputiert zum Oberrhein-Zug Basel-Karlsruhe und erhielt die Bezeichnung RE 18048. Die Allerweltszugnummer "achtzehn null achtundvierzig" wird bei den alten Hasen unter den Eisenbahnern nicht weiter beachtet, bei "dreißig zwanzig" dagegen schwingt noch der Geist der alten Bundesbahn mit. Die "30" deutete unmissverständlich auf einen "überbezirklichen" Eilzug hin, denn schließlich wurde ja in der Nähe von Pforzheim die Direktionsgrenze zwischen der BD Karlsruhe und der BD Stuttgart überfahren. Nach der bereits genannten Bezeichnung E 557 hieß er übrigens bis in die späten Achtzigerjahre E 3080. Damals gab es noch keine deutschlandweite Zugnummern- vergabe, so dass auch in anderen Teilen der Republik Züge mit gleicher Nummer fuhren.
Die Erinnerung von Fahrgästen und Schaffnern aus den vergangenen Jahrzehnten ist gezeichnet von Höhen und Tiefen einer bewegten Zug-Vergangenheit dieses besonderen Bahnangebots, das all die vielen Fahrplanänderungen der vergangenen Jahrzehnte überdauert hatte. Wer saß nicht alles in dem dunkelblauen Wagen mit den Abteilen der ersten Klasse in der Zugmitte? Unternehmer und hohe Beamte, Staatssekretäre und Regierungsmitglieder aus dem badischen Landesteil, Rundfunkintendanten und Schauspieler, Parteifunktionäre und Touristen aus Japan und Amerika. Es gab eine Zeit, da schätzte die Prominenz neben dem InterCity durchaus noch den Eilzug mit der umsteigefreien Verbindung. Die regelmäßige Benutzung dieses Zuges durch einen Wirtschaftsminister des Landes ist besonders tragisch dokumentiert: Minister Eberle starb im abendlichen Gegenzug auf der Wochenendheimfahrt vom Regierungssitz Stuttgart in seinen Familienwohnsitz am Hochrhein.
Viel mehr als die Anwesenheit einiger Promis fiel aber die Beförderung der "Massen" ins Gewicht. Gerade vor den Schulferien stürmten die Schulklassen lärmend den Zug. Umsteigefrei zu den Affen in der Wilhelma, zum Landtag oder zum Planetarium - Lehrer und Betreuer waren dankbar. Und schließlich die Stammkundschaft, die Schüler und Berufspendler, die den Zug auf der werktäglichen Fahrt zwischen dem Wohnort und der Schule oder dem Arbeitsort abschnittsweise bis auf den letzten Sitzplatz belegten.
Stammkunden wie Hermann Dietsche - und dieser nimmt sein kleines, dickes DB-Kursbuch "Oberrhein" wieder vom Sitzplatz neben sich und sucht erneut die Tabelle 703. Hat er sich wirklich nicht getäuscht? - Kein Zweifel! Denn auch im Zeitalter der elektronischen Fahrplanauskunft gibt es noch Leute wie Dietsche, die mit dem gedruckten Kursbuch perfekt umzugehen verstehen. "Es fördert den Überblick", bermerkt er beiläufig, "aber, damit die Verstümmelung nicht so auffällt, hat man im neuen Kursbuch auch gleich noch die bisher durchgängige Tabelle 702 (Karlsruhe- Basel) in Offenburg unterteilt." Und die Einträge in diesem neuen Kursbuch verheißen tatsächlich nichts Gutes für unseren RE 18048. Die Zugnummer bleibt zwar gleich und die Fahrzeiten ändern sind nur auf der Anfangsstrecke geringfügig, aber auf die Ankunft in Offenburg, wie seit Jahren um 7.44 Uhr, wird kein Achtungspfiff mehr für die Abfahrt folgen. Mit dem ungewohnt späten Fahrplanwechsel am 10. Juni gibt es eine neue, unerwartete Lautsprecherdurchsage, wenn sich der Zug in die 90-Grad Kurve kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof der Burda-Stadt legt: "In wenigen Minuten erreichen wir Offenburg, bitte alles aussteigen, der Zug endet dort."
Falls diese neuerliche Änderung nicht viele Fahrgäste vergrault, steigen dann werktags über 300 Menschen in Offenburg aus dem RE 18048. Und ein erheblicher Teil davon wird
anschließend vom Bahnsteig an Gleis 2 durch die Unterführung zum Gleis 6 hetzen und dort in ein brandneues Produkt der Deutschen Bahn einsteigen: den IRE 18000 (InterRegioExpress, eigentlich besser InterRegioErsatz). Dieser Zug soll die besonders beliebte InterRegio-Frühverbindung nach Hamburg auf dem Abschnitt zwischen Konstanz und Karlsruhe ersetzen. Äußerlich unterscheidet er sich wenig vom Regionalexpress. Eine Zuglok der selben Baureihe 110 hat ebenfalls höchstens sechs Nahverkehrswagen der ursprünglichen Bauart "Silberling", wenn auch in roter Farbgebung, am Haken haben. Und auf der Fahrt nach Karlsruhe werden, wie vom alten Eilzug 3020, alle Bahnhöfe und Haltepunkte zwischen Offenburg und Rastatt bedient.
So sieht also die Umsetzung der Zusage aus, die Landesverkehrsminister Ulrich Müller "nach schwierigen Verhandlungen" im Januar verkünden ließ: "Die Bahn fährt die bisherigen Interregio-Verbindungen ohne Bestellung und Bezahlung durch das Land weiter." Den Preis bezahlen allerdings die Fahrgäste in vielfacher Art. Aus einer direkten Verbindung wird eine Trimm-Dich-Aktion mit mehrfachem Umstieg, jetzt neben Karlsruhe auch in Offenburg. Zusätzlich wird ein sportlicher Einsatz beim Kampf um die deutlich reduzierte Zahl der Sitzplätze zu erbringen sein, denn bis zum Fahrplanwechsel fuhren im Abstand von einer viertel Stunde der Regionalexpress mit fünf und der Interregio mit neun Reisezugwagen von Offenburg nach Karlsruhe. Der neue IRE stellt in seinen "redesignten" Eilzugwagen 408 Sitzplätze für Fahrgäste der 2. Klasse bereit. Wenn ein verwegener Lehrer in den Ausflugsmonaten Juni und Juli womöglich, wie in den Vorjahren, mit einer Schulklasse im Zug zu günstiger Zeit nach Karlsruhe oder Stuttgart fahren möchte, so ist er mit der Buchung reichlich spät dran...
Hermann Dietsche ist enttäuscht. Andere werden es auch sein! Die Hoffnungen der Bahnkunden konzentrieren sich auf Dezember 2002. Dann soll das Provisorium mit dem Interregio-Ersatzverkehr über den Schwarzwald und dessen Auswirkungen auf den Nahverkehr am Oberrhein durch ein dauerhafteres Angebot mit einem sinnvollen Fahrplan abgelöst werden. In den Büros der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW) wird bereits fleißig über neue Fahrplanstrukturen nachgedacht.
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